Eros entlaufen

Kypris weint ihrem großen sohn nach, Eros mit namen:
»Wer hat Eros gesehn an den kreuzungen, wie er umherirrt?
Er ist entlaufen. Wer hinweise gibt, bekommt eine gabe:
Lohn soll der kuss der Kypris sein; und wenn du ihn herbringst,
nicht nur der kuss, mein freund, nein, dir – schenk ich mehr noch.
Sehr berühmt ist das kind, du kennst es von statuen, bildern.
Seine haut ist nicht hell, sondern feuergleich; seine augen
stechend und flammend; sein herz schlecht, süß seine rede
(denn er denkt nicht, so wie er spricht), wie honig die stimme
und wie galle das herz. Ein rücksichtsloser verführer –
niemals sagt es die wahrheit, das listige, grausame kleinkind.
Schöne locken am kopf um die unverfrorener stirne.
Klitzekleine händchen hat er, doch er schießt damit großes,
schießt bis hinein in die unterwelt, bis in den Hades-palast hin.
Nackig am ganzen körper, sein sinn ist immer verborgen.
Und wie ein vogel mit flügeln fliegt er drauf los, immer wieder
hin zu männern und frauen; er setzt sich drauf auf die herzen;
hat einen winzigen bogen und hat für den bogen geschosse –
mickrig sind die geschosse, doch fliegen sie hoch bis zum äther.
Und auf dem rücken, da hängt ein goldener köcher, darin sind
bittere worte, mit denen er auch mich häufig verwundet.
Roh und wild ist das alles, viel eher gleicht er der fackel,
selbst als kleine leuchte entflammt er selbst noch die sonne.
Wenn du ihn fängst, dann binde und bring ihn, habe kein mitleid,
auch nicht wenn du ihn weinen siehst! Pass auf, denn er täuscht dich!
Auch wenn er lacht, nimm ihn mit; und, will er dich küssen,
fliehe vor ihm! Der kuss ist übel, die lippen sind giftig.
Wenn er dir sagt: ›Hier, nimm, ich geb dir all meine waffen!‹,
fass die geschenke nicht an! Er hat sie in feuer gebadet.«