Klage – aber Jubel

Nur im Raum der Rühmung darf die Klage
gehn, die Nymphe des geweinten Quells,
wachend über unserm Niederschlage,
daß er klar sei an demselben Fels,

der die Tore trägt und die Altäre. -
Sieh, um ihre stillen Schultern früht
das Gefühl, daß sie die jüngste wäre
unter den Geschwistern im Gemüt.

Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, -
nur die Klage lernt noch; mädchenhändig
zählt sie nächtelang das alte Schlimme.

Aber plötzlich, schräg und ungeübt,
hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme
in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.

Rainer Maria Rilke Die Sonette an Orpheus I, 8

1

Nur im raum der rühmung darf die klage
schweigen, nur im siegen ganz das leid.
Immer sonst liegt auf der großen waage
auch ein gran von blei und dunkelheit.

Und ein funke mittag, licht-auf-wasser,
glimmt im stürmeschwarz. Und alle lust
schweigt allein im worthagel der hasser:
Ein verlust – und alles ist verlust.

Weisheit, fein geschnürt in strophenpaare,
soll dich retten? Nein, in deine haare
greift der wind und reißt dich um, vergessen

ist dann alles was du lasest. Stells
ab, sei leicht. Und sieh im dunkel (wessen?)
gehn die nymphe des geweinten quells.

[…]

3

Wachend über unserm niederschlage:
wolken. Über wolken: reines blau,
heller, dunkler, nächtlicher. Die tage
können ihm nichts anhaben. Genau

das ist, was ich meine: Nur kristall
sein – nichts sonst –, an dem die welt zerbricht.
Über unsrem scheitel scheint kein all:
denn das sind wir selber, beide. Nicht

anders wird das alles jemals sein:
licht von innen, strahl und stahl und stein.
Nur das glas, in das die welt sich gießt.

Nur die klare klinge des skalpells
dran der große strom entzwei sich fließt,
dass er klar sei an demselben fels.

[…]

5

Der die tore trägt und die altäre
vor dich schichtet und den glanz von flammen
ihnen aufsetzt – haar- und helmgleich –, wäre
all das ich gewesen? – Woher stammen

diese bilder? All das ist nicht mehr,
war nie mehr als traum und unterrichtet
(alte stühle, schwüle sommer, ver-
gossne tinte an den händen). Bricht et-

was in dir entzwei, wenn ich das sage?
All das ist nicht mehr. Denk dir die tage
ruhig aus, die waren: Kein gesandter

kann davon berichten. Dein geblüt –
einbildungen (sieh doch, wie die phanta-
sie um ihre stillen schultern früht).

[…]

7

Das gefühl, dass sie die jüngste wäre,
die du je besessen hast: ein lila
schatten überm golf (und keine fähre
nimmt ihn fort) neapels. Langsam fiel er

über dich, hat alles umgefärbt:
Ziegel, grau, und stahlgeländer tragen
sie in deine welt zurück. So kerbt
sie sich ein. Und wie der sternen-wagen

jede nacht erneut, die ganze nacht.
Frage dich: Was hast du draus gemacht?
Nur gedichte? – Aber andre kamen.

Alles war von vorn. Doch alles blüht
unter ihrem schatten. (Nenn den namen
unter den geschwistern im gemüt.)

[…]
Mit diesen kommt das zweite alter, liebe
Gebar die Welt, liebe gebiert sie neu.
Stefan George Hyperion

9

Jubel weiß, und sehnsucht ist geständig, –
denn sie hat sich selbst verhört (gehört
das denn nicht dazu?) und eigenhändig
deine welt für sich geschaffen. Stört

dich, dass alles so vorhanden ist?
Schönheit, abend, lächeln, vorstadt, ihr
zwei nur? (Sieh: man nimmt die germanist-
ik zur hand. Wen er wohl meint? Verwirr

diese leute ruhig, eh sie wissen:)
Sehnsucht hat die welt gemacht. Vermissen
stand an ihrem anfang, als die letzte

welt in scherben dalag. Wie lebendig
scheint was sich an ihre stelle setzte.
Nur die klage lernt noch, mädchenhändig.

[…]
الضوءُ الوحيد الذي سيُغطِّي هذا العالمَ
هو ضوء عيونِ القنَّاصين
عارف حمزة

11

Zählt sie nächtelang das alte schlimme,
weiß sie nicht: da kommt noch viel, viel mehr.
Jede stunde schaut durch korn und kimme
und das tageslicht ist ein gewehr.

Übersät von unsichtbaren roten
punkten, auf dem boden festgenagelt,
steht sie, wartet, dass der tag sein schrot en-
tlädt und wie schon gestern niederhagelt.

Ein paar stunden schlaf, mehr nicht, das reicht,
um nicht ganz zu brechen. Wie auf leicht
abgewischten tafeln steht noch alles

da, verworren, grün von weiß getrübt.
Schlafen, stürzen – formen eines falles,
aber plötzlich, schräg und ungeübt.

[…]

13

Hält sie doch ein sternbild unsrer stimme,
durch das langsam die planeten ziehen:
Jeden monat, jedes jahr durchschwimme
ich auf ihren bahnen: Ausgeliehen

ist von ihnen nur, was ich erlebe.
Und in nächten seh ich sie geduldig
warten, bis ich alles wiedergebe:
Keines ihrer zeichen spricht mich schuldig.

Jedes ihrer zeichen möchte bleiben,
und ich muss sie alle niederschreiben,
schwarz auf weiß das weiß auf schwarz: den jungen

himmel, der noch seine formen übt.
Von den blättern stehn erinnerungen
in den himmel, den ihr hauch nicht trübt.

[…]
Mondlicht, weiß
Fast schweigend: 1
Mein Garten: 2